Anbei ein Lesebeispiel:
Adonis unter Apfelbäumen
Die Rhön stand lange abseits. Das hat sich gründlich geändert. Heute treffen alte Stärken auf neues Selbstbewusstsein. Etwa wenn es um Essen und Trinken geht. Und schönere Schafe gibt es auch nirgendwo.
Text: Martin Jahrfeld
Die Äpfel seiner Umgebung haben Jürgen Krenzer schon als Jugendlicher beschäftigt. Das Keltern von Apfelwein hat in der Rhön lange Tradition, doch der junge Mann hatte sich in den Kopf gesetzt etwas Neues, Unbekanntes in die Welt zu setzen. Inspiration im Überfluss fand sich jeden Herbst auf den Streuobstwiesen hinter dem elterlichen Gasthof: Früchte mit klangvollen Namen wie Coulons Renette, Aderslebener Kalvill oder Schöner von Boskoop – Äpfel so eigenwillig und vielgestaltig wie sie kein Supermarkt dieser Welt bieten kann. Um zu erfahren, dass der frischvergorene, recht saure Apfelwein der Region nicht das Maß aller Dinge ist, bedurfte es jedoch eines Touristen aus England, der dem jungen Apfelweinforscher längere Lagerung und mehr Süße empfahl. Krenzer begann zu experimentieren und erlebte nach etlichen Versuchen die ersehnte Offenbarung: „Auf der Zunge entwickelte sich ein feiner halbtrockener Apfelgeschmack, der vollmundig ein ausgeglichenes Verhältnis von Restzucker und Säure zeigte. Ein idealer Aperitif“.
Das Geschmackswunder hat sich längst in eine begehrte Spezialität namens „Rhöner Sherry“ verwandelt, doch die Lust an kulinarischer Forschungsarbeit begeistert den 49jährigen noch immer. Manche Äpfel der Rhön sind derart sauer, dass sie geradezu eine Herausforderung darstellen: „Die Kunst besteht darin, die starke Säure mit zugesetzter Süße und Alkohol ins richtige Verhältnis zu setzen“, erklärt Krenzer – ein Balanceakt, den der umtriebige Gastronom immer wieder neu in Szene zu setzen weiß. Im Keller seines Hotels lagern zahlreiche Apfelspirituosen, deren eigenständige Charaktere viel von der Region erzählen, der sie entstammen.
So wie ihre Äpfel ist auch die Rhön eine Gegend, deren Schönheit und Geschmack entdeckt und erobert werden will. Die Eigenheiten ihrer Heimat haben die Rhöner stets verteidigt, auch gegen Eingriffe von außen. Als die EU in den sechziger Jahren hohe Prämien für das Fällen von Apfelbäumen auslobte, wurde das in der Rhön nahezu komplett ignoriert – mit dem Ergebnis, dass hier noch immer über 500 verschiedene Apfelsorten wachsen. „Die Leute hier waren noch nie besonders obrigkeitshörig. Wir produzieren lieber unsere eigenen Sachen“, glaubt Krenzer. Wenig überraschend, dass auch eine der populärsten deutschen Biomarken aus der Rhön stammt. Mitte der neunziger Jahre erfand Braumeister Dieter Leipold in Ostheim die Bionade, deren Erfolg einen Boom regionaler Bio-Limonaden auslöste.
Seit die Rhön durch die Wiedervereinigung in die Mitte Deutschlands rückte und 1991 UNESCO-Biosphärenreservat wurde, hat sich vieles verändert. Die Region ist aufgeblüht, das Selbstbewusstsein gewachsen, der Stolz auf Eigenes so vital wie die Lust auf Neues. Die zahlreichen, lange vernachlässigten Stärken können Besucher heute auf Schritt und Tritt entdecken – etwa in Gestalt der vielen nachhaltig wirtschaftenden Bauernhöfe, Bio-Züchter und regional kochenden Gastronomen, die sich mittlerweile in nahezu jedem Dorf finden.
Die Renaissance des Rhön-Schafs ist da nur konsequent: Lange geschmäht als schlechter Wolle- und Milchlieferant, hat seine kulinarische Wiederentdeckung in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, dass sich wieder Schäfer mit ihren Herden in der Rhön ansiedeln. Für Jürgen Krenzer ist das robuste, hochbeinige Tier mit dem markanten schwarzen Kopf ohnehin der „Adonis unter den Schafen“. Seine Bewunderung zelebriert der Hotelier auch bei der Einrichtung seines Hauses. Einige Zimmer sind mit witzigen Schafsmotiven ausgestattet, im Garten können Besucher im hölzernen Schäferwagen nächtigen – stilechte Refugien, die nach einem Wandertag durch die Wälder und Gebirge der Rhön viel Ruhe und Entspannung bieten.
Richtig rund wird ein solcher Outdoor-Tag voller Naturerlebnisse natürlich erst durch die Ideen der Neuen Rhöner Küche: Die bei niedriger Hitze geschmorte Lammkeule vom Rhön-Schaf mit vielen regionalen Gemüsen ist ein Erlebnis, bei dem Jürgen Krenzer ins Schwärmen gerät: „Es dauert etwas länger, bis das Rhön-Schaf Fleisch ansetzt. Dafür ist der Geschmack umso würziger und intensiver. Mit karamellisierten Tomaten, handgemachten Klößen, hauseigenem Pesto und Preiselbeer-Senf-Chutney nahezu unwiderstehlich.“ Wenn der Wirt dann noch einen seiner „Rhön-Sherrys“ ausschenkt, entfährt den glücklich erschöpften Gästen am Abend meist nur noch ein seliger Stoßseufzer: „Bei euch in der Gegend ist es so schön, da müsstet ihr eigentlich Eintritt nehmen“.